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Matthias Claudius

Ein Lied vom Reiffen

Seht meine lieben Bäume an,
Wie sie so herrlich stehn,
Auf allen Zweigen angetan
Mit Reiffen wunderschön!
Von unten an bis oben 'naus
Auf allen Zweigelein
Hängts weiß und zierlich, zart und kraus,
Und kann nicht schöner sein;
Und alle Bäume rund umher
All alle weit und breit
Stehn da, geschmückt mit gleicher Ehr,
In gleicher Herrlichkeit.
Und sie beäugeln und besehn
Kann jeder Bauersmann,
Kann hin und her darunter gehn,
Und freuen sich daran.
Auch holt er Weib und Kinderlein
Vom kleinen Feuerherd,
Und marsch mit in den Wald hinein!
Und das ist wohl was wert.
Einfältiger Naturgenuß
Ohn' Alfanz drum und dran
Ist lieblich, wie ein Liebeskuß
Von einem frommen Mann.
Ihr Städter habt viel schönes Ding,
Viel Schönes überall,
Kredit und Geld und golden Ring,
Und Bank und Börsensaal;
Doch Erle, Eiche, Weid' und Ficht'
Im Reiffen nah und fern –
So gut wirds euch nun einmal nicht,
Ihr lieben reichen Herr'n!
Das hat Natur, nach ihrer Art
Gar eignen Gang zu gehn,
Uns Bauersleuten aufgespart,
Die anders nicht verstehn.
Viel schön, viel schön ist unser Wald!
Dort Nebel überall,
Hier eine weiße Baumgestalt
Im vollen Sonnenstrahl
Lichthell, still, edel, rein und frei,
Und über alles fein! –
Oaller Menschen Seele sei
So lichthell und so rein!
Wir sehn das an, und denken noch
Einfältiglich dabei:
Woher der Reif, und wie er doch
Zustande kommen sei?
Denn gestern abend, Zweiglein rein!
Kein Reiffen in der Tat! –
Muß einer doch gewesen sein
Der ihn gestreuet hat.
Ein Engel Gottes geht bei Nacht,
Streut heimlich hier und dort,
Und wenn der Bauersmann erwacht,
Ist er schon wieder fort.
Du Engel, der so gütig ist,
Wir sagen Dank und Preis.
Omach uns doch zum heil'gen Christ
Die Bäume wieder weiß!