zurück

Conrad Ferdinand Meyer

Frühlingslüfte

1.
Durch die Tannen, durch die Föhren
Nieder streicht der warme Föhn,
In der Ferne kann ich hören
Der Lawinen dumpf Getön;
Wie von ungestümen Bächen
Wird es unterm Eise laut —
Grollend musst du heute brechen,
Mauer, die der Frost gebaut!

Von November bis zu Märzen
Lag das Herz in Eises Haft;
Aber fluten zu dem Herzen
Fühl’ ich es wie Stromeskraft.
Mit Erbleichen, mit Erröten
Ahn’ ich eines Lenzes Wehn -
Sage, Lenz, wirst du mich töten?
Lässest du mich auferstehn?

2.

Goldne Lichter zittern heut
In den lauen blauen Lüften,
Rieselnd schmilzt der Schnee zerstreut
An den Felsen, in den Klüften,
Aus den Wiesen kommt ein Düften,
Das mir ganz das Herz erneut.

Unter dem bemoosten Steg
Tost es in den Felsenschlünden,
Primeln stehn an jedem Weg,
Die den jungen Lenz verkünden,
Anemonen in den Gründen,
Veilchen duften im Geheg.

In dem Äther warm und rein
Zartbeschwingte Falter schweben,
Aus der Erde dunkelm Schrein
Steigt das frische, grüne Leben,
Lüftet feine Decken eben,
Drängt sich an den Sonnenschein.

Nun die lauen Lüfte wehn,
Wie die großen, silberhellen
Schneegebirge nahe stehn!
Auf das Knospen, auf das Schwellen,
Auf das Strömen aller Quellen,
Reine Geister, niedersehn!

Von dem raschgeregten Blut
Fängt die Brust sich an zu dehnen:
Todesahnen! Lebensmut!
Wanderlust und Liebessehnen!
Neue Lieder, heiße Tränen
Brechen aus des Herzens Glut.